Unternehmen Rumpelkammer

Aus „DER SPIEGEL 49/1965“ , von Max Wachtel

Der nachstehende Bericht des deutschen »V 1«-Kommandeurs Oberst Max Wachtel beschreibt, wie die Deutschen Vergeltungsschützen im Zweiten Weltkrieg den britischen Geheimdienst täuschten. In diesem Bericht spielt auch Walther von Axthelm aus der bayrischen Adelslinie „von Axthelm“ eine entscheidende Rolle.

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An der Rennbahn von Maisons-Laffitte wartet im Morgengrauen ein Mann auf einen schwarzen Chrysler mit dem Kennzeichen YC-986 aus Paris. Herr von Axthelm – groß, Glatze, kräftige Nase – trägt einen engen grauen Mantel. In der linken Hand hält er ein Koppel. An dem Koppel hängt eine Pistolentasche.

Schloss Maisons-Laffitte

©Wikipedia, Lionel Allorge CC BY-SA 3.0

Der Wagen hält. Herr von Axthelm entziffert das Kennzeichen: YC-986. Der Fahrer springt heraus, läuft um den Wagen und reißt die hintere Tür auf. Herr von Axthelm steigt ein.

Wenig später huscht der Wagen über eine Ausfallstraße im Norden von Paris. Der Fahrer schaltet die Scheinwerfer ab und beschleunigt die Fahrt: Herr von Axthelm will noch am Vormittag im Schloß Auteuil sein.

Das geheime Treffen auf Schloß Auteuil

An der Schloßtreppe warten sechs sonderbare Gestalten: Die Männer haben Zivil an, doch fast alle tragen zu schlecht sitzenden Jacken die Breeches und Stiefel deutscher Luftwaffenoffiziere.

Der Wagen bremst – die Männer schlagen die Hacken zusammen. Von Axthelm grüßt mit Handschlag. Während der Unterhaltung steigt die Gruppe über die Stufen der Schloßtreppe. In der Halle knallen die Stiefel laut über das Parkett.

Die Männer führen ein merkwürdiges Gespräch. Sie reden von Kieselsteinen, Bumsköppen, Rundläufern und Ausreißern. Plötzlich fällt das Wort Rumpelkammer, der Deckname für eines der aufregendsten Unternehmen des Zweiten Weltkriegs.

Deckname: Rumpelkammer

Walther von Axthelm ©Wikipedia

Die Männer, die im Frühjahr 1944 in dem nordfranzösischen Schloß Auteuil konferieren, sind die Stabsoffiziere eines mysteriösen deutschen Regiments. Der Besucher ist ihr höchster Waffenvorgesetzter, der General der Flakartillerie Walther von Axthelm.

Einer der Männer trägt in seiner Brieftasche eine ungewöhnliche Genehmigung. Ihr Text räumt ihm Rechte ein, die kein anderer deutscher Offizier genießt. Der Mann heißt – an diesem Tag – Martin Wolf; er kann sich aber auch Michael Wagner nennen. Er trägt – an diesem Tag – Zivil; er darf aber auch die Uniform der deutschen Luftwaffe oder den Rock des deutschen Heeres tragen. Er ist – nicht nur an diesem Tag – Oberst; er darf aber auch als Oberstleutnant reisen. Seit einigen Wochen kann er außerdem als Hauptfrontführer der Organisation Todt auftreten, als Chef einer »Oberbauleitung Schmidt«.

Ein Mann mit vielen Namen

Max Wachtel

Max Wachtel ©Wikipedia, Bundesarchiv, CC-BY-SA 3.0

Dieser große kräftige Mann mit dem scharfgezogenen Scheitel kann nahezu alles und jeder sein, nur eines darf er nicht – er selbst sein. Oberst Max Wachtel hat tot zu sein. An einem Sommertag des Jahres 1943 wird sein Name ausgelöscht. Denn an diesem Sommertag des Jahres 1943 scheint Oberst Wachtel ernsthaft gefährdet.

Dieser Oberst Max Wachtel bin ich. Die deutsche Abwehr hat erfahren, daß mein Name den Briten bereits bekannt ist: Radio London hat ihn unlängst erwähnt. Alliierte Agenten und Kommandotrupps machen Jagd auf mich. Der britische Geheimdienst ist angewiesen, allergrößte Anstrengungen zu meiner Beseitigung zu unternehmen. Tot oder lebendig – ich soll verschwinden.

Doch die deutsche Abwehr kommt den Engländern zuvor: Aus Max Wachtel werden Martin Wolf und Michael Wagner.

Ich schlüpfe aus dem Mausgrau der Flakartillerie in das Feldgrau des Heeres. Schließlich verwandele ich mich in einen Hauptfrontführer in Zivil.

Die abenteuerliche Geschichte meiner Metamorphose hat vor mehr als einem Jahr begonnen – und auch damals war General von Axthelm hinter verschlossenen Türen mein Visavis.

An einem Vormittag des Jahres 1943 findet in der Flakartillerieschule I in Rerik an der mecklenburgischen Ostseeküste ein Lehrgang für Flak-Kommandeure statt. Im großen Saal der Kaserne hält der Kommandeur des Lehr- und Versuchsregiments vor dreißig jungen Kommandeuren Vortrag. Dieser Kommandant ist der Oberstleutnant Max Wachtel, 45 Jahre.

Rückblick Wachtels Jahre 1940-1943

Während des Frankreich-Feldzugs im Jahre 1940 führte ich als Major die erste Abteilung des Breslauer Flak – Regiments Nr. 7 in der Flak -Brigade 1 des Obersten Walther von Axthelm. Später erhielt ich den Sonderauftrag zur Bildung eines »Lehr – und Versuchskommandos zur Erprobung der Siebel-Fähren im Einsatz«.

Siebelfähre

Siebelfähre ©Wikipedia / Public

Diese Fähren hatte der Flugzeugkonstrukteur Siebel entworfen, um die Motoren abgewrackter Maschinen vom Typ »Ju 52« zu verwerten: 18 in Zweierreihe miteinander verbundene Pionier -Pontons waren mit vier 8,8-Zentimeter -Flakgeschützen und vier 2-Zentimeter -Vierlingen bestückt; der Flugzeugmotor, über eine Kette mit einer Schraube verbunden, trieb das Flak-Floß an.

Mit diesen Siebel-Fähren kämpften wir auf dem Ladoga-See an der Leningrad-Front hinter den russischen Linien, und die Fähr-Flottille hatte blutige Nachtgefechte mit den Russen.

Geheimnissvolle Vorladung zum General von Axthelm

Nun, im Frühjahr 1943, gebe ich unsere Erfahrungen an jüngere Leute weiter. Ich bilde in Rerik Kommandeure aus.

An diesem Vormittag bittet eine Ordonnanz, mich in meinem Vortrag unterbrechen zu dürfen: »Der Herr Oberstleutnant werden dringend am Telephon verlangt.«

Ich gehe in den Vorraum. Die Ordonnanz reicht mir den Hörer. Ich melde mich: »Wachtel.«

Stams – der Oberstleutnant Stams, Chef des Stabes beim General der Flakartillerie Walther von Axthelm. Stams macht es kurz: Ich werde zum General befohlen – heute, 16 Uhr, Inspektion der Flakartillerie, Berlin, Fasanenstraße. Kein Kommentar. Ende.

Sofort breche ich den Vortrag ab und lasse meinen Fahrer, den Oberwachtmeister August Treutle, kommen.

Zehn Minuten später fegt unser dunkelblauer, sechssitziger, offener Horch aus der Kaserne.

Um 15.55 Uhr biegen wir vom Kurfürstendamm in die Fasanenstraße ein. Drittes Haus rechts – Axthelms Stabsquartier liegt im ersten Stock.

Ich bin gespannt. Als Soldat hat man ja immer ein schlechtes Gewissen. Axthelms Vorzimmerdame ist eine reizende Person. Etwas zuviel Make-up für meinen Geschmack, doch überaus liebenswürdig.

»Was ist denn los?« frage ich sie. Das Mädchen zuckt mit den Schultern: »Keine Ahnung … Der Chef tut sehr geheimnisvoll …«

Die schwere Doppeltür zu Axthelms Zimmer öffnet sich – der General: »Kommen Sie rein, Wachtel!« Axthelm schließt die Türen zum Flur, die Türen zum Vorzimmer, dann schließt er auch die Fenster.

Kirschkern

Wir sitzen uns am großen Konferenztisch gegenüber. Vor den Fenstern wippen die Zweige der Linden, die Spatzen lärmen.

Axthelm: »Schon mal was von ‚Kirschkern‘ gehört?«

»Nein, Herr General.«

»Und von ‚Fi 103′ ?«

»Nein, Herr General.‘

Axthelm erhebt sich und tritt an seinen Schreibtisch. Aus einem Fach langt er eine Flasche Cognac. Er schenkt ein: »Prost, mein Lieber …«

»Sehr zum Wohl, Herr General!« Axthelm stellt sein Glas ab. »Ich will Ihnen mal was sagen. Wachtel … Wenn Sie dort aus der Tür gehen, dann haben Sie alles vergessen; was Sie jetzt hören werden. Denn was ich Ihnen erzähle, ist nicht nur geheim, das ist das Geheimste, und von dem wissen nur sehr wenige Leute.«

Ich erfahre von meinem General: »In Peenemünde, da oben auf Usedom, erproben wir zur Zeit ein Aggregat, das London beschießen soll. Dieses Aggregat tut es aber noch nicht.«

Das Aggregat wurde von den Firmen Fieseler und Argus entwickelt. Es ähnelt einem kleinen unbemannten Flugzeug und soll eine Sprengladung von einer Tonne über eine Entfernung von 250 Kilometern tragen.

Fi 103 / FGZ 76 ©Bundesarchiv, CC-BY-SA 3.0

Der erste Start gelang Weihnachten 1942. Anfang Januar sah General von Axthelm einen zweiten Versuch. Seitdem wird der neuen Waffe – die Bombe und Flugzeug zugleich ist, keinen Piloten und auch nicht Sprit für einen Rückflug braucht – höchster Vorrang eingeräumt. Ihr Industriename »Fi 103« wird schnell in »Kirschkern« und dann, auf Axthelms Vorschlag, in »FZG 76« geändert – »FZG«, die Abkürzung für »Flakzielgerät«.

Das Gerät steckt noch tief im Stadium wissenschaftlicher Versuche und industrieller Erprobung. Dennoch soll es in kürzester Zeit zu einer einsatzbereiten und militärisch wirkungsvollen Waffe gemacht werden. Zu diesem Zweck muß ein Erprobungskommando aufgestellt werden. Später soll das Kommando in ein Regiment umgewandelt werden. Bereits Ende 1943 soll dieses Regiment stehen. Sein Kommandeur wird alle nur denkbaren Vollmachten erhalten.

Die Enthüllungen meines Generals wirken wie ein Schock auf mich. Als Artillerist habe ich noch nie auch nur annähernd so weit geschossen! Als Organisator habe ich noch nie eine vergleichbare Verantwortung gehabt!

»Wollen Sie den Auftrag übernehmen?« fragt Axthelm. »Ich mache Sie aber darauf aufmerksam, was man von Ihnen erwartet.«

Ohne zu Zögern antworte ich: »Jawohl, Herr General. Ich freue mich auf diese Aufgabe!«

Dann verabschiedet mich der General: »Sie hören … Das Weitere werde ich Ihnen mitteilen lassen.«

Das Staatsgeheimnis in der Brust, lasse ich mich von August nach Rerik zurückfahren. Dort höre ich »das Weitere« am 10. Mai. Der Anruf aus Axthelms Stabsquartier lautet:

»Sie haben sich sofort nach Peenemünde zu begeben und sich dort mit Major Stams in Verbindung zu setzen.«

Geheime Anlage der Luftwaffe Peenemünde

Peenemünde Raketenprüfstand Miniatur

Peenemünde Raketenprüfstand Miniatur © J. Strauß CC BY-SA 4.0

Major Stams – Bruder des Chefs des Stabes bei Axthelm – ist Kommandeur von Peenemünde-West, der Erprobungsstelle der deutschen Luftwaffe. Stams hat das Versuchsgelände von Peenemünde durch zwei Sperrketten abriegeln lassen. Die Zufahrtsstraßen sind durch Schlagbäume blockiert.

Als August den offenen Horch vor dem ersten Schlagbaum abbremst, präsentiere ich mein Soldbuch und berufe mich auf Stams. Die Posten telephonieren trotzdem mit der Kommandantur. Dann geht der Schlagbaum hoch.

Ein paar Minuten später müssen wir vor dem nächsten Schlagbaum halten. Wieder zücke ich das Soldbuch. Auch hier müssen die Poste6n erst mit der Kommandantur telephonieren. Dann geht auch dieser Schlagbaum hoch.

Major Stams wartet bereits. Er verschafft mir für 48 Stunden Quartier in der Kaserne und händigt mir den Ausweis Nr. 2590 mit dem Text aus: »Inhaber darf den Verwaltungsbezirk und den abgesperrten Teil einschließlich geh. Anlagen der Erprobungsstelle der Luftwaffe Peenemünde betreten und die Werkbahn kostenlos benutzen.«

Zwei Tage später ziehe ich in den »Preußenhof« in Zinnowitz um. Das Kurhotel ist weiß verputzt. Mein Zimmer hat Balkon und Seeblick.

Ausbildung der geheimen Elite-Einheit

Ich habe Vollmacht, die Führungsspitze für das Lehr- und Erprobungskommando »W/8« (wie Wachtel) aus der gesamten deutschen Luftwaffe zu rekrutieren, mit Ausnahme des fliegenden Personals.

Wen werde ich anfordern? Wo sind meine Männer, von denen ich weiß, was ich ihnen zumuten und daß ich mich auf sie verlassen kann?

Da ist Werner Dahms, mein Ordonnanzoffizier aus dem Frankreich -Feldzug. Aus Frankreich kenne ich auch den Batterie-Chef Gerhard Schwennesen. Vom Fähren-Krieg auf dem Ladoga -See hab ich den Oberleutnant Süssenguth in Erinnerung. Ich kriege die drei. Als Adjutant wird mir vom Personalamt im Reichsluftfahrtministerium Hauptmann Grothues empfohlen. Ich nehme ihn.

Jeder dieser Männer wird sofort auf höchste Geheimhaltung verpflichtet. Jeder hat über Einheit, Standort und Aufgabe strengstes Stillschweigen zu wahren.

Tests mit dem Bomben-Katapult

Katapult für V1

Katapult für V1 © Derzno CC BY-SA 3.0

Tag für Tag fahren wir nach Peenemünde-West, um uns mit der Schleuder für die neue Waffe vertraut zu machen. Und Tag für Tag erleben wir Enttäuschungen.

Die Schleuder ist ein Katapult von 42 Meter Länge, zusammengesetzt aus sieben Teilen von je sechs Metern. Am Fuß der Schleuder befindet sich ein »Dampferzeuger«. In diesem Dampferzeuger wird die chemische Flüssigkeit »T und Z«-Stoff – die in großen Milchkannen angeliefert wird – elektrisch gezündet. Sofort nach der Zündung entwickelt der Dampferzeuger eine Million PS. Mit dieser Kraft reißt er einen gewaltigen Bolzen durch die Rille der Schleuder.

Der Bolzen, »Bumskopp« genannt, soll die Flugbombe katapultieren. Doch trotz der gewaltigen Kraft, von einer Million PS kann er es noch nicht. Die Versuchsbomben fliegen allenfalls fünfzig bis hundert Meter weit und plumpsen in die Ostsee.

Im Sommer 1943 lasse ich die Schleuder von Peenemünde in die Nähe von Zinnowitz, nach Zempin, 13 Kilometer südöstlich der Erprobungsstelle, verlagern. Dort werden zwischen Kiefern und Dünen die Feldstellungen I und II angelegt.

Abhörsichere Telefonleitung

Mein Stab bezieht einen flachen Ziegelsteinbau am Strand von Zempin. In diesem Meßhaus der deutschen Kriegsmarine schalten Fernmeldetechniker einen Inverter vor die Telephonanlage. Die Sprechverbindungen des Stabes zum Reichsluftfahrtministerium, zum Führungsstab der deutschen Luftwaffe, zum Fliegergeneral Wimmer vom Luftgaukommando Belgien/Nordfrankreich in Brüssel sowie nach Brüsterort an der ostpreußischen Bernsteinküste, dem Aufstellungsort für die Batterien, müssen nicht nur direkt, sondern auch abhörsicher sein.

Der Inverter ist ein »Zerhacker“: Er verstümmelt jedes Telephongespräch zu einem unartikulierten Geplapper; erst beim Empfänger kann das Gespräch durch ein entsprechendes – Vorschaltgerät wieder entschlüsselt werden.

Doch dieses Verfahren hat einen Nachteil: Wer im Wagen neben den Telephondrähten herfährt, das Autoradio auf eine bestimmte Wellenlänge einstellt und dieses Vorschaltgerät anschließt, kann das zerhackte Gespräch auch hier unverstümmelt mit anhören.

Zunächst wissen wir, die Geheimnisträger des Lehr- und Versuchskommandos Wachtel, von diesem Nachteil des Verfahrens nichts. Wir konzentrieren uns auf unsere nahezu unlösbaren Aufgaben.

Aufbau von Flak-Regiment und Stellungen

Innerhalb weniger Wochen muß der Stab zumindest drei Aufträge gleichzeitig erfüllen. Er muß:

  • das Erprobungskommando bilden, um herauszufinden, wie stark die Bedienungsmannschaft für eine Schleuder sein muß;
  • das Regiment aufstellen und einsatzfähige Abteilungen formieren;
  • den Einsatzraum erkunden und Stellungen bauen lassen.

Bald haben wir uns einen ersten Überblick verschafft: Für jede Schleuder werden wir wohl eine Bedienungsmannschaft von etwa fünfzehn Mann benötigen; hinzu kommt noch technisches Personal.

In Brüsterort werden vier Flak -Batterien mit je vier Schleudern unter den Kommandeuren Oberstleutnant Dietrich, Oberstleutnant Aue, Major Sack und Hauptmann Schindler gebildet; außerdem müssen Reserveschleudern bereitgestellt werden.

Leutnant Nagorny ist in Frankreich unterwegs, um Stellungen zu erkunden; auf der Radiuslinie von 250 Kilometer um London sucht Nagorny Waldschneisen, Mulden und andere geeignete Plätze, deren Achse jeweils auf die britische Hauptstadt gerichtet ist. Unter dem Befehl von General Wimmer und in der Verantwortung des Oberbaudirektors Weiß von der Organisation Todt werden von etwa 40 000 Franzosen und Fremdarbeitern nahezu einhundert Stellungen gefertigt.

Major Neubert bildet die Luftnachrichtenabteilung des Regiments und baut in Nordfrankreich ein umfangreiches Funk- und Fernsprechnetz auf.

In Zempin konferieren wir mit Ballistikern wie dem Professor und Major der Reserve Sommerfeld, mit Meteorologen und den Konstrukteuren der Firmen Fieseler und Argus. Außerdem fliege ich mehrmals in der Woche mit einem meiner Offiziere in unserer Maschine, Typ »He 111«, vom Flugplatz Peenemünde nach Brüssel oder Antwerpen, zu vorbereitenden Besprechungen über die Montage der Schleudern mit General Wimmer oder seinem Chef des Stabes, Generalmajor Metzner, und Führern der Organisation Todt.

Der Feind hört mit

Heinkel HE111K

Heinkel HE111 © Wikipedia, public domain

Am 28. Juli 1943 – unsere »He 111« überfliegt gerade den Kontrollpunkt Wesel – empfängt unser Bordfunker einen Befehl aus Paris: General Koller, Chef des Stabes bei Generalfeldmarschall Sperrles Luftflotte 3, wünscht unverzüglich Oberst Wachtel zu sprechen. Wir ändern den Kurs und landen in Le Bourget.

Eine halbe Stunde später eile ich durch den Fahnensaal im Pariser Palais du Luxembourg. Erster Stock. Erstes Vorzimmer: Unteroffiziere. Zweites Vorzimmer: Kollers Adjutant. Schließlich – energisch, untersetzt – General Koller selbst: »Wachtel, danke, setzen Sie sich.« Der General kennt mich vom Einsatz der Siebel-Fähren in Cherbourg und Vlissingen.

»Wachtel«, sagt Koller, lesen Sie das mal.« Er reicht mir ein Papier, eine Meldung von einem Luftnachrichtenregiment an die Luftflotte 3: »Funkspruch aufgefangen. Feindbefehl an alliierte Jäger im Flugbereich Kanalküste. Einzelmaschine Typ He 111, Flugrichtung Westfalen – Rheinland – Brabant – Limburg, dringend abschießen …«

Ich atme durch: »Dann sitzen die englischen Agenten offenbar schon in unserer Telephonleitung …«

Koller: »Sie bleiben hier. Sie werden ab sofort auch nicht mehr fliegen. Sie beziehen für ein paar Tage Quartier bei uns im Palais und warten auf weitere Befehle …«

Ein verwegenes Täuschungsmanöver

Zwei Tage später erhalte ich im Palais du Luxembourg den Befehl zu einem der verwegensten Täuschungsmanöver des Zweiten Weltkriegs. Oberstleutnant Heidschuch von der Abwehr des Heeres – groß, bulliger Typ, links armamputiert -, Leiter der Abwehrstelle »Arras«, erscheint bei mir im Palais und entscheidet:

Der Name Wachtel muß sofort aus diesem Krieg verschwinden. In den Offizierstellenbesetzungen wird ein neuer Name auftauchen: Oberst Martin Wolf.

Ich erhalte mein erstes falsches Soldbuch. Es lautet auf Oberst Martin Wolf – »Erkennungsmarke 1/Stab/ Res. Flakabt. 704«. Außerdem ordnet der Einarmige an: »Keine Rasur!« Oberst Wolf hat kurzen Kinn- und Backenbart zu tragen.

Eine Woche bleibe ich in Paris und lasse die ersten Bartstoppeln sprießen. Dann reise ich im Schlafwagen Paris -Berlin nach Deutschland zurück. In Pasewalk verlasse ich die Bahn, fahre mit einem Dienstvagen nach Zempin und lasse die Männer vom Flakregiment 155 (W), die gerade in Zempin stationiert sind, antreten.

Die Männer stehen auf der Straße entlang der Ostseeküste, unter dem schützenden Laubdach der Chausseebäume. Ein Offizier meldet: »Einhundertfünfzig Mann angetreten!«

Ich nehme die Meldung entgegen. Dann trete ich vor die Front. Es ist der größte Augenblick in meinem Leben. Ich rufe: »Männer! Ich bin Oberst Martin Wolf und habe Ihren früheren Kommandeur Wachtel abgelöst. Oberst Wachtel hat eine andere Funktion übernommen.«

Die Männer grinsen nicht, Sie sind »Geheimnisträger«. Sie wissen, daß unter diesen Umständen vieles möglich ist.

Für mich ist ohnehin nichts mehr unmöglich. Ich unterschreibe ab sofort nur noch mit »Wolf«.

Erste Kirschkern-Probeläufe

Anfang Oktober 1943 trifft auf einem getarnten Lastwagen der erste »scharfe Vogel« in Zempin ein, und am 16. Oktober feuern wir den ersten Probeschuß ab.

Der Start verläuft fehlerfrei. Doch während der nächsten Zeit fallen zahlreiche Flugbomben als Blindgänger in die See«.

Währenddessen hat sich in den Spionage- und Abwehrkrieg zwischen uns und dem britischen Geheimdienst bereits fleißig die französische Résistance gemischt. Französische Arbeiter, die mit dem Bau unserer späteren Stellungen beschäftigt sind, berichten der Widerstandsorganisation, daß die Deutschen im Hinterland der Kanalküste zahlreiche gleich- und neuartige Gebilde anlegen lassen, deren Längsachsen einheitlich auf London gerichtet sind.

Im Dezember 1943 werden die Stellungen aus der Luft angegriffen. Alliierte Bomberverbände zertrümmern sie dermaßen, daß wir beschließen müssen, sie aufzugeben. Vereinfachte, in Deutschland vorfabrizierte Schleudern – die später innerhalb weniger Tage vor dem Einsatztermin zu montieren sein werden – sollen sie ersetzen.

In Brüsterort sind die ersten Batterien um diese Zeit einsatzbereit. Auf ihrem Marsch nach Frankreich machen sie in Zempin Station. In Zempin feuern sie Probeschüsse von den Schleudern der Feldstellungen I und II. Dann werden sie, unter dem Decknamen »Flak -Gruppe Creil«, nach Frankreich verlegt. Dort werden sie fernab ihrer späteren Stellungen in kleinen Ortschaften untergebracht. Sie sickerten unauffällig nach Frankreich ein.

Umzug ins Schloss Merlemont

Mit meinem Stab beziehe ich im Château Merlemont Quartier, einem Schlößchen, etwa anderthalb Kilometer von der Straße Paris-Beauvais entfernt, inmitten eines Parks.

In Paris wird uns gleichfalls Quartier zugewiesen: Avenue Hoche Nr. 56, nahe dem Arc de Triomphe. Dort übernachten unsere Offiziere, wenn sie zu Besprechungen in Paris sind.

Wir müssen zahlreiche Gespräche mit zahlreichen Dienststellen führen. Denn wir haben einen ungewöhnlichen Status:

  • Als Truppe unterstehen wir dem Inspekteur der Flakartillerie General von Axthelm und dessen Inspizienten für Sonderwaffen, Generalmajor von Gyldenfeldt.
  • Unseren Einsatz befiehlt das LXV. Armeekorps unter dem General der Artillerie Heinemann.
  • Unsere Versorgung leitet die Luftflotte 3 unter Generalfeldmarschall Sperrle.
  • Unsere Stellungen baut das Luftgaukommando Belgien/Nordfrankreich unter Fliegergeneral Wimmer.

Am 29. Januar 1944 unterzeichnet General Heinemann in Maisons-Laffitte eine Bescheinigung, die mir weitere Vollmachten einräumt. Sie lautet:

»Oberst Martin Wolf, geb. am 6. 6. 1897 zu Rostock, ist berechtigt, jede Heeres – und Luftwaffenuniform zu tragen …«

Ich mache von dieser Sondergenehmigung sofort Gebrauch: Bisher habe ich nur Fliegergrau getragen; nun lasse ich an der Avenue des Champs-Elysées meine erste Uniform in Feldgrau schneidern.

In Feldgrau reise ich nach Merlemont zurück. Kurz darauf greifen alliierte Tiefflieger das Château an. Unsere Abwehr schaltet sich ein. Auch sie kann die Frage, ob dieser Angriff nur zufällig oder möglicherweise gezielt erfolgte, nicht klären. Das Korps entscheidet, daß jedes Risiko zu vermeiden sei.

Eine Verschleierungsaktion in zivil

So wird, im Februar 1944, eine neue Schutzmaßnahme für die Führungsspitze befohlen: Der Stab des Regiments wird aufgeteilt. Die Nachschubabteilung bleibt in Merlemont – mein Führungsstab zieht acht Kilometer weiter, in das Schloß Auteuil.

Organisation_Todt

Wegweiser in Auteuil
Falsches Schild am Schloss

Mit diesem Umzug geschieht eine neue Verwandlung des Flak-Regiments 155 (W): Aus der »Flak-Gruppe Creil« wird die »Oberbauleitung Schmidt der Organisation Todt«. Ein nicht zu übersehendes Schild am Eingang von Auteuil weist ausdrücklich darauf hin.

Eine Maskerade beginnt: Die Offiziere vom Stab ziehen die Uniformen aus und empfangen von der Beschaffungsstelle »Anka« in Paris Zivil. Auch Mannschaften und Unteroffiziere geben ihr Fliegergrau auf Kammer. In kleinen Trupps reisen die Männer nach Paris und fassen bei »Anka« die braune Uniform des Frontarbeiters der Organisation Todt.

Château_d'Auteuil

Schloss Auteuil © Passion Châteaux

Schloß Auteuil, sein Park und die weiten Weiden seines Gestüts sind ziviles Gelände. Niemand – auch nicht die Generäle Heinemann und von Axthelm – dürfen uns in Uniform besuchen. Wir fahren nur noch Privatwagen mit französischen Kennzeichen. Wer nach Auteuil kommt, muß nicht nur die Uniform gegen Zivilsachen tauschen, auch die WL-Schilder an den Wagen müssen gegen OT- oder private Schilder ausgewechselt werden.

Inzwischen hat sich Oberst Max Wachtel nicht nur in Oberst Martin Wolf und Oberstleutnant Michael Wagner verwandelt. Als Chef der »Oberbauleitung Schmidt« habe ich nun auch ein OT-Dienstbuch für den Ingenieur und Hauptfrontführer Martin Wolf von der »Einsatzgruppe West«.

Tatsächlich lösen die Agenten der Alliierten unsere Scharade nie – oder immer einen Zug zu spät: Während ich Merlemont längst geräumt habe und als Hauptfrontführer in Auteuil sitze, greifen amerikanische Bomber Merlemont an und zerstören meine Diensträume. Kurz darauf meldet das alliierte Flugblatt »Nachrichten für die Truppe«, das die Engländer über deutschen Stellungen abwerfen: Bei der Zerstörung von Schloß Merlemont sei Oberst Martin Wolf ums Leben gekommen …

Interne Spannungen und Anklagen

Doch meine Männer und ich stehen nicht nur im Abwehrkampf gegen alliierte Bomber und feindliche Agenten. Neben den Engländern haben wir einen zweiten, gefährlicheren Gegner: das LXV. Armeekorps.

In den Beziehungen zum Korps – und besonders zu Stabschef Oberst Walter – entstehen in diesem Frühjahr 1944 unerträgliche Spannungen. Und nach jeder Auseinandersetzung mit dem Korps weiß ich, daß am nächsten Morgen wieder Kriegsgerichtsräte an meinem Bett stehen werden.

Die ersten kommen im Februar 1944: Leutnant Busse verwahrt in seinem französischen Quartier Aufzeichnungen über die »V 1«, was natürlich strengstens verboten ist. Diese Aufzeichnungen werden gefunden. Busse wird verhaftet, angeklagt, zum Tode verurteilt. Ich interveniere. Daraufhin wird Busse begnadigt, degradiert und an die Ostfront versetzt.

Vier Wochen später sind die nächsten Kriegsgerichtsräte da. Sie leiten eine weitere kriegsgerichtliche Untersuchung ein – diesmal gegen mich selbst. Im Einsatzgebiet ist eine Flugbombe ohne Papiere aufgetaucht.

Ich weiß nichts davon und habe damit auch nichts zu tun. Für die Verlagerung der Flugbomben aus dem Reichsgebiet in den französischen Einsatzraum ist ein Transportregiment, das eigens zu diesem Zweck gebildet wurde, allein verantwortlich. Das Korps unterhält für dieses Regiment Güterzüge, auf deren Waggons die Bomben – mit Planen verdeckt und von Posten bewacht verankert sind. Die Züge haben auf allen Strecken, auch vor D-Zügen, Vorrang. Für einen »V 1«-Transport werden die Strecken sofort frei gemacht.

Nachdem die Kriegsgerichtsräte sich informiert haben, wird die Untersuchung gegen mich eingestellt.

Vorbereitung auf den Vergeltungsbefehl

Anfang Juni rollen die ersten großen »V 1«-Transporte in den Einsatzraum.

Der Befehl zur »Vergeltung« kann nun jede Woche gegeben werden. Dieser Befehl wird die »Oberbauleitung Schmidt« unter dem Decknamen »Rumpelkammer« erreichen. In dem Augenblick, in dem der Befehl ergeht, beginnt das unwiderrufliche sechstägige Countdown für das erste Feuer. Der Plan ist von meinem Stab genauestens kalkuliert.

Meine Leute arbeiten fieberhaft an der Vorbereitung der Offensive. Die Männer vom Stab und die Kommandeure und Offiziere in den Stellungen kommen nicht mehr vor dem Morgengrauen ins Bett.

Ich dränge darauf, die Schleudern nicht nur auf London zu richten. Ich empfehle energisch, auch Portsmouth und Southampton, die Ausgangshäfen der erwarteten Invasion, unter Beschuß zu nehmen. Außerdem bitte ich zu erwägen, ob nicht auch der Kanal möglicherweise ein lohnendes Zielgebiet wäre, um unter der Armada der Invasoren Verwirrung zu stiften. Ich meine: Man möge sich vorstellen, wieviel Panik ein paar unserer scharfen »Maikäfer« unter einer dichtgedrängten Flotte anrichten könnten.

Doch der »Führer« will nichts davon wissen. Er befiehlt: »Vergeltungsschläge ausschließlich auf London.«

Zwischendurch erproben wir winzige Scheinbatterien: Kleine Holzgerüste, von denen Feuerwerkskörper mit starker Rauchentwicklung gestartet werden. Sie sollen später, während des Einsatzes, die Gegner verwirren und ihre Aufmerksamkeit von unseren Schleudern lenken.

Am 6. Juni 1944 will mein Stab sich ein paar Stunden Pause gönnen: Ihr »Alter« wird 47. »Morgen wollen wir mal fünfe gerade sein lassen«, so meinen die Männer am Abend zuvor. Doch der 5. Juni ist nicht nur der Vorabend zu meinem Geburtstag – er ist auch der Vorabend der Invasion.

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Invasions Training © Wikipedia, public domain

Im Morgengrauen des 6. Juni 1944 stürmen die ersten englischen und amerikanischen Invasoren die Küsten der Normandie.

Mein Geburtstag ist vergessen. Wenige Stunden nach Beginn der Invasion empfängt die »Oberbauleitung Schmidt« vom LXV. Armeekorps den Befehl »Rumpelkammer«. Im nächsten Augenblick beginnen die letzten Vorbereitungen für den Fernbeschuß der britischen Hauptstadt.

Der Vergeltungsbefehl „Rumpelkammer“

Unsere Männer nehmen – nach genauen Plänen – die Montage der vorfabrizierten Schleudern, deren Einzelteile getarnt in Wäldern und Unterkünften lagern, in Angriff.

Sie ziehen die Uniformen der Organisation Todt aus und legen wieder das Fliegergrau der Flakartillerie an. Ich rasiere mich, hänge die Zivilsachen in den Schrank und schlüpfe gleichfalls in den Rock der deutschen Luftwaffe. Dann beziehe ich meinen Befehlsbunker im Gefechtsstand Sâleux, der, bei Amiens, 24 Meter unter der Erde angelegt ist.

Dringend warne ich vor einem überstürzten Einsatz. Ich bin überzeugt, daß die katastrophalen Nachschubverhältnisse eine Verschiebung der Feuereröffnung um 48 Stunden unbedingt erforderlich machen. Auch unser Nachschubchef Schwennesen und Fliegerstabsingenieur Eberhard beschwören das Korps, den Einsatz nicht zu überstürzen. Doch der Stabschef des Korps hört diese Warnungen nicht. Seine Antwort lautet: Eröffnung des Feuers auf Ziel 42 am 12. Juni.

In der Nacht zum 12. Juni kommen wir um vier Uhr ins Bett. Um sieben Uhr sind wir wieder auf dem Gefechtsstand. Das Telephon steht nicht still. Immer mehr Männer drängen in den Bunker: Ingenieure aus Peenemünde, Vertreter des Korps, Beobachter von der Luftflotte 3. Auch der Kommandierende General Heinemann erscheint.

Die Männer im Einsatzgefechtsstand sitzen um einen großen Holztisch und, empfangen Meldungen von den Batterien. Sie hören unentwegt Hiobsbotschaften:

Die meisten Batterien sind für diese Nacht nur unzulänglich versorgt: Viele Einzelteile sind nicht herangekommen. Vor einer Wand des Bunkers ist ein Stadtplan von London aufgestellt. Der Plan ist transparent und von hinten erleuchtet. Hell fällt der Zielpunkt ins Auge: Tower Bridge.

Auf dieser Karte sollen heute Nacht die ersten »V 1«-Treffer durch Lichtpunkte markiert werden.

General Heinemann sitzt im Bunker und blickt gespannt auf den Stadtplan. Mein Ordonnanz-Offizier Dahms ist dem General als Betreuer zugeteilt und trinkt mit ihm ein Glas Sekt. Heinemann, so findet Dahms, freut sich unbändig auf die ersten hellen Punkte.

Ärger mit dem Kriegsgericht

Er soll sich nicht allzuoft freuen können. Auf dem Stadtplan von London im Befehlsbunker vor Sâleux leuchten in dieser Nacht nur vier Punkte.

Bevor ich am 13. Juni um 6 Uhr morgens aufs Bett falle, schreibe ich in mein persönliches Tagebuch: »Es hat nicht geklappt. Niederbruch auf der ganzen Front.« Später am Tag notiere ich: »Krach mit Walter … Den ganzen Tag widerliche Gespräche mit Walter … Es ist furchtbar, wenn die Leute kein technisches Verständnis haben. Der Einsatz wurde zu früh befohlen …«

Zwei Tage später erscheinen die Kriegsgerichtsräte im Bunker. Sie eröffnen das Gespräch, das schnell zum Verhör werden soll, mit der Floskel, die mir nicht mehr unbekannt ist: »Wir kommen vom Herrn Reichsmarschall mit der Frage, ob der Herr Reichsmarschall sich für Ihre Belange einsetzen soll …«

Diese Floskel bedeutet: Kriegsgericht. Mir soll wegen des mißglückten ersten Einsatzes der Prozeß gemacht werden.

Ein weiterer Besucher im Bunker beendet die Untersuchung allerdings schnell: General von Gyldenfeldt bugsiert die Kriegsgerichtsräte ins Freie. Ich bleibe auf meinem Posten.

Bis zum nächsten Zwischenfall vergehen nur wenige Tage.

Der Führer zu Besuch

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Führerhauptquartier Wolfsschlucht 2 © TCY CC BY-SA 3.0

Am 17. Juni erscheint der »Führer« im Einsatzraum. Hitler trifft in Margival mit den Generalfeldmarschällen von Rundstedt und Rommel zusammen. Auf dem Gefechtsstand »Werwolf II« bei Soissons hält General Heinemann Vortrag. Der »Führer« freut sich, daß die »Vergeltung« gegen die britische Hauptstadt nun endlich begonnen habe. Er verläßt den Gefechtsstand, um nach Berchtesgaden zurückzufahren. Einige Zeit später schlägt in unmittelbarer Nähe von »Werwolf II« eine Flugbombe ein.

Auch diesmal warte ich nicht vergebens: Am 19. Juni erscheinen wieder Kriegsgerichtsräte; sie argwöhnen einen hinterhältigen Anschlag auf den Führer«. Doch auch diesmal können sie nichts ausrichten.

Die junge Waffe hat Schwächen, die uns zum Überdruß bekannt sind. Eine dieser Kinderkrankheiten ist der »Rundläufer«. Sobald die Steuerungsmembrane der Bombe auch nur durch ein Sandkorn gestört wird, verändert die Bombe sofort ihren Kurs; sie kann kehrtmachen und durchaus auch auf ihre Abschußstellung zurückfallen.

Das nächste Kriegsgerichtsverfahren gegen mich wird angestrengt, weil unser Professor Lettau in Gefangenschaft gerät.

Lettau, Leiter meiner Wetterwarte, unternimmt eine Dienstreise in den Raum Cherbourg. Ich verabschiede ihn mit der Warnung: »Informieren Sie sich vorher bei der Luftflotte über die Lage, Herr Professor. Auf Wiedersehen!«

Ich sehe ihn nicht wieder … Die Kriegsgerichtsräte unterstellen: Geheimnisträger Lettau sei mit einer französischen Freundin durchgebrannt; ich hätte meine Dienstaufsichtspflicht versäumt.

Ein verstärkter Einsatz der V1

Ich werde, wie immer, rehabilitiert. Am 30. Juni 1944 meldet sich Oberleutnant Dr. Karl Holzamer – Jahre nach dem Kriege Intendant des Zweiten Deutschen Fernsehens in Mainz -, der schon in der Nacht zum 13. Juni einen ersten »Ohrenzeugenbericht von der Kanalfront« für den großdeutschen Rundfunk gesprochen hat, zum zweitenmal bei meinen Männern, um den für 2 Uhr nachts befohlenen Feuerschlag mitzuerleben und über Tonband der Öffentlichkeit zu übermitteln. Ins Kriegstagebuch des Regiments – das leider auch heute noch in London liegt und uns nicht zugänglich ist – wird über Holzamers Besuch eingetragen:

»Unweit der Stellung der 8. Batterie ist der Rundfunkwagen aufgefahren. Der Himmel ist wolkenverhangen, es regnet leicht. Bestes Schießwetter!« Unter einem Baum auf erhöhtem Platz einer Böschung steht Kriegsberichter Dr. Karl Holzamer, das Mikrophon in der Hand. Im Funkwagen läuft das Aufnahmegerät. Der Sprecher erhebt seine Stimme: »Gleich wird es soweit sein. Ein verstärkter Einsatz von V 1 !« Donnernd zieht, während der Kriegsberichter das Erlebnis für die Heimat, für die Ohren der Welt festhält, V 1 seine Bahn …«

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Sperrballons über London zur Abwehr der V1 © public domain

Am 22. Juli 1944 feuern unsere Batterien ihren 5000. Schuß auf London ab; einen Monat später müssen wir räumen. Am 23. August, um 5 Uhr früh, stehe ich auf und verlasse als letzter den Gefechtsstand Sâleux. Vor den heranstürmenden Invasionstruppen verlegen wir nach Roubaix nahe der belgischen Grenze.

Am 19. November 1944 feuern wir die 10 000. Bombe ab; dann müssen wir auch Roubaix räumen. London ist nun außer Reichweite der »V 1«.

Am 16. Dezember ergeht an uns – wir stehen jetzt in Mittelholland – der Befehl: »Feuer auf Antwerpen!« Dieser Befehl trifft mich wie ein Keulenschlag, denn in Antwerpen lebt die belgische Staatsbürgerin Isabella De Goy, die meine Frau werden soll.

Ich traf sie 1941 in Antwerpen, als ich in der belgischen Hafenstadt im Lazarett lag. Ich mußte sie zurücklassen, als die Deutschen die Stadt 1944 räumten.

Nun feuern meine »V 1«-Batterien ihre Flugbomben auf Antwerpen, sie zertrümmern die Stadt und den Hafen – und ich weiß auch bei Kriegsende nicht, ob Isabella von meinen eigenen Waffen getötet worden ist.

Der Krieg ist zuende

Anfang Mai 1945 tauche ich unter: Aus Martin Wolf wird wieder Max Wachtel. Ich organisiere einen Opel P 4, frisiere ihn als Flüchtlingswagen, indem ich Betten und Hausrat auf das Dach schnalle, binde mir einen Schal um den Kopf und passiere so, als »zahnkranker Flüchtling« kostümiert, am 9. Mai 1945 die britischen Straßensperren bei Hamburg.

In Hummelsbüttel beziehe ich in einem Zirkuswagen von »Sarrasani« Quartier, schaffe ein Pferd, ein Schaf, ein Huhn und einen Hund an und werde Landwirt.

Treffen eines alten Gegners

An einem heißen Sonntagvormittag im August 1946 rollt ein englischer Personenkraftwagen vorüber. Der Wagen wendet und stoppt. Ein englischer Offizier steigt aus, nähert sich und grinst, als ich ihm entgegentrete: »Herr Wachtel oder Herr Wolf?«

Der englische Offizier ist der Squadron Leader E. J. Andre Kenny, einst Hauptmann und Auswerter der Luftaufklärerphotos in Medmenham, wo er die erste Versuchsschleuder für die Flugbombe in Peenemünde irrtümlich als »Schlammpumpe« identifiziert hat. Später kam Kenny zur Abwehr. Im Sommer 1944 wurde er über Frankreich abgesetzt, mit dem Auftrag, den Einsatzkommandeur der deutschen Flugbomben zu entführen oder umzulegen. Jetzt endlich, im Sommer 1946, hat er mich, seinen alten Gegner, gefunden.

Als Kenny sich mit der Bemerkung verabschiedet, er müsse »nun weiter nach Brüssel«, bitte ich ihn, einen Brief nach Antwerpen zu befördern. Kenny befördert den Brief.

Die Geliebte aus Belgien

Wenig später habe ich Damenbesuch: Isabella De Goy, Antwerpen, schwarz über die Grenze gekommen. Isabella! Die Belgier haben ihr die Haare abgeschnitten. Doch sie ist gesund! Sie ist dem Hagel unserer V -Waffen entgangen …

Während der nächsten Monate schreibe ich freche Briefe nach London, an Kenny, der im War Office sitzt: Ich will Isabella endlich heiraten – sie ist inzwischen nach Antwerpen zurückgekehrt -, und Kenny soll mir dabei helfen.

Endlich, im Spätherbst 1947, suchen mich britische Offiziere auf. Sie sind von Kenny geschickt und sollen mich nach London holen. Wir fahren nach Hoek van Holland und setzen nach England über. In London komme ich in dem Lager Speadon Tower im Stadtteil Hampstead unter.

Ein paar Tage später – ich blicke gerade auf die Straße – traue ich meinen Augen nicht: Das gute Stück aus Antwerpen! Kenny ist wirklich ein Kerl: Er hat Isabella rangeschafft.

Alle Achtung vor soviel Fairplay, denke ich – denn zu dieser Zeit sind in London ja noch allerhand Möbel geradezustellen …

Wir werden zu einem »special case“: Nach neun Tagen Aufenthalt in der britischen Hauptstadt werden wir am 9. Dezember 1947, 10 Uhr vormittags, vor dem Standesamt von Hampstead getraut. Trauzeugen sind Squadron Leader Kenny und seine Sekretärin Helen Edwards. Gäste der Hochzeitsfeier am Abend in Kennys Wohnung sind Leute von der britischen Abwehr.

Noch ein anderer Ex-Feind

Am 3. Dezember 1959 – ich bin seit acht Jahren Flughafendirektor von Hamburg-Fuhlsbüttel – wird mir gemeldet, daß mit einer »Viscount« der BEA noch am gleichen Tag der britische Minister für Zivilluftfahrt bei uns landen wird.« Der Minister will die Luftwerft in Hamburg besichtigen und beim Fürsten Bismarck im Sachsenwald Wildschweine jagen.

Als die »Viscount« eingewinkt wird, stehe ich auf dem Rollfeld. Die Tür der Maschine öffnet sich, heraus tritt der Minister. Er winkt: »Hallo, Colonel!«

Ich denke: Worum handelt es sich? Meint der Herr Minister mich? Er meint mich.

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Duncan Sandys 1975 © CC0

Denn dieser englische Minister ist Duncan Sandys, Churchills Schwiegersohn, der während des Krieges mit der dringenden Untersuchung der deutschen Geheimwaffen beauftragt war und damals sicher nichts sehnlicher gewünscht hat, als mich unschädlich gemacht zu wissen.

Der Herr Minister wurde vor seinem Abflug in London informiert. Mich hatte man ahnungslos auf das Rollfeld gehen lassen.

Bei einem Drink fragt Mr. Sandys mich: »Wissen Sie eigentlich, daß wir Sie kidnappen wollten – tot oder lebendig? Es ist uns leider nicht gelungen.«

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Sandys-Brief an Wachtel, 1960

Einen Monat später habe ich Post aus London. Duncan Sandys schreibt: »Während des Krieges habe ich Sie gespannt aus der Ferne beobachtet. Sie nun persönlich getroffen zu haben, war für mich ein besonderes Vergnügen …«

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