Der Genius und die Thüringer Klöße
Aus „DIE ZEIT“ Nr. 14/1988, von Stefan Reisner
Meine Familie stammt aus Weimar und hat folglich, wie so viele Einwohner, ihre eigenen Beziehungen zum Genius dieses Ortes, dem Geheimen Rat und Minister Goethe. Sie wurde sogar in „Dichtung und Wahrheit“ erwähnt, was in der Weimarer Gesellschaft einem Adelsschlag gleichkam und viel mehr war, als die anderen zu bieten hatten, die nur vor Goethens Tür gestanden, um den angereisten Besuchern die Eigenheiten des inhäusigen Hausherren zu erklären.
Eine meiner Vorfahren, Lena Louise Axthelm, war tatsächlich in den Jahren 1826 bis 1829 im Hause Goethe angestellt, und zwar in der Küche. Sie war wohl nicht die Erste Köchin, eher eine Gehilfin, und an gewöhnlichen Tagen servierte sie auch, während an Festtagen und bei Empfängen der Kammerdiener auftrug. Nach dem Stammbuch meiner Eltern – so etwas mußte während der Nazizeit angelegt werden – ist vermerkt, daß Lena Louise Axthelm im März 1879 zu Weimar verstorben ist.
Natürlich hat sie Tagebuch geführt – wie wohl jeder, der im Haus am Frauenplan zu tun hatte, irgendwann einmal seine Beobachtungen zu Papier brachte – Goethe wußte dies und richtete sich danach. Von meiner Vorfahrin sind drei Oktavhefte überliefert (zwei blaue und ein schwarzes). Sie sind nicht alle vollgeschrieben, vielmehr läßt der Eifer in allen drei Heften nach einigen Seiten nach, viele Blätter sind leer. Und offensichtlich hat Lena Louise in späteren Jahren, wie man an der reiferen Schrift sieht, auch noch einiges aus der Erinnerung hinzugefügt. Ihre ehemalige Position als Köchin Goethes sicherte ihr in Weimar lebenslange Aufmerksamkeit.
Für uns weniger interessant sind die allgemeinen Bemerkungen des jungen Mädchens, etwa über das Weimarer Wetter – so ist unter dem 6. Januar 1826 „Schneegestieber“ vermerkt (Goethe war an diesem Tag gar nicht in der Residenz); oder Notate von Ereignissen, über die wir andere Vermerke haben, etwa aus den Haushaltsbüchern des Sohnes August, die sehr sorgfältig geführt sind – wie überhaupt August der eigentliche Hausmeier und Verwalter des ministeriellen Hausstands war, wobei er bei den Angestellten offensichtlich hohes Ansehen genoß. Hinter seinem Namen stehen in Lena Louises Tagebuch niemals die wütenden Ausrufungszeichen, die manchmal hinter Goethes Titel in das Papier gehackt sind. Unter dem 3. November 1827 vermerkt das junge Mädchen nur „Zwiebelmarkt“, und aus den Haushaltsbüchern Augusts können wir ergänzen, daß für den großen Hausstand an diesem Tag „zwei Sack blaue Cibuln à 7 Groschen“ eingekauft wurden, und aus den „Annalen der Landwirtschaftlichen Gesellschaft von Coburg-Gotha“ (sic!) wissen wir, daß diese blauen (französischen) Zwiebeln von zwei Bauern in Berka produziert wurden.
Wichtig sind vielmehr die Nachrichten über den inneren Zustand des Hauses Goethe, die wir den Aufzeichnungen entnehmen können. Eigentlich waren es ja zwei Haushalte, der des alten Herren und dann der junge Hausstand von August und Frau. Ottilie, die immer zu spät zum Essen kam, spielte darin die geringste Rolle. Das Küchenmädchen Lena Louise scheint von ihrer Tätigkeit in Goethes Haushalt nicht sehr eingenommen gewesen zu sein; nur so läßt sich erklären, daß sie nach nur vier Jahren den Dienst wechselte. Es war ja vor allem ein Senioren-Haushalt, dessen Ruhe immer wieder durch die vielen Besucher gestört wurde. Goethe scheint, was seinen Tisch betrifft, auf die Geschmäcker seiner Gäste nicht viel Rücksicht genommen zu haben. Derber und reichhaltiger wurde für die Sekretäre und Angestellten gekocht, die oft das Wildbret abbekamen, das der Hof Goethe ins Haus schickte.
Mit zunehmendem Alter liebte es Goethe, Suppen zu essen, und mehrmals vermerkt Lena Louise „dem Geheimr. die Suppe gebracht“. Waren Gäste da, wie meist, dann wurden allerdings mehrere Gänge serviert, nach den Unterlagen Augusts in geringen Portionen. Der alte Herr liebte es, seine Gäste bei Tisch mit eher geistigen Gaben zu verköstigen. Für das Personal waren diese oft mehrstündigen Sitzungen am Tisch eine Qual – Goethe zeigte immer wieder seine geliebten Stiche vor, schickte seine Sekretäre, irgendeinen Sammelkasten, seien nun Münzen darin oder Knochen, zu holen. Für das Personal eine anstrengende Serviertätigkeit, denn der alte Herr verabscheute es, während der Rede durch klapperndes Geschirr unterbrochen zu werden. Dieses Geräusch kam bei ihm gleich nach dem so gehaßten Hundegebell.
In den Aufzeichnungen, und dies erscheint mir als Glücksfall, ist einmal genau die
Speisenfolge vermerkt, und zwar die vom Freitag, dem 4. Mai 1827. Eckermann berichtet
unter diesem Datum: „Zu Ehren Amperes und seines Freundes Stapfer großes Diner bei
Goethe.“ Aus Lena Louises Aufzeichnungen ergibt sich, daß folgende Speisen serviert
wurden:
- Taubensuppe
- Pastetchen von Krebsen
- Gefüllte Kalbsbrust
- Rinderfilet mit Trüffelsalat und Birnenkompott
- Rahmschaum in Biskuit
- Butter und Käse
Wie man sieht, ein gutbürgerliches Diner, das dazu führte, daß die „Unterhaltung laut,
heiter und bunt durcheinander“ war. (Eckermann op.cit.) Goethe war bester Laune und animierte die Gesellschaft zu einer anschließenden „Spazierfahrt um das Gehölz auf dem
Weg nach Tiefurt“.
Augusts akribische Buchführung vermerkt unter diesem Datum den Abgang von „zwölf
Flaschen rheinischen Weins“. Unter dem Datum vom 3. Mai, dem Donnerstag, vermerkte
nun Lena Louise: „An der Ilm, zum Fischen!“ – woraus mit einiger Sicherheit geschlossen
werden kann, daß die an Goethes Tafel verspeisten Pastetchen aus den am Vortag in der
Ilm gefangenen Krebsen gefertigt wurden. (Die halb-bäuerliche Herkunft Lena Louises hat
ihr gewiß die Handfertigkeit des Krebsgreifens vermittelt.)
Dieses so eingehend vermeldete Diner scheint etwas Besonderes gewesen zu sein,
reichlicher als sonst. Eckermann notiert noch am Sonntag, dem 6. Mai 1827: „Abermalige
Tischgesellschaft bei Goethe, wobei dieselbigen Personen zugegen wie vorgestern.“ Es
waren nicht nur die selbigen Personen: Lena Louise vermerkt lakonisch an diesem Tag
in ihrem Tagebuch: „Reste!“ – also gab es auch das gleiche Essen. Die Reste-Eintragung
wirft ein bezeichnendes Licht auf die Haushaltsführung Augusts, der das reichliche
Einkommen des Vaters durchaus sorgfältig verwaltete; jedenfalls in diesem Punkt kann
eine Ehrenrettung des oft als liederlich beschriebenen August vorgenommen werden.
Zwei Ereignisse in der Dienstzeit Lena Louises im Hause Goethe sollen hier
herausgegriffen werden, sie nehmen in den Tagebüchern den weitesten Platz ein. Da ist
einmal die Auseinandersetzung um das Anchovis-Faß und dann das Gespräch über Klöße.
Am 18. Oktober 1827 erhielt der Haushalt eine Lieferung „portugisischer Anchois“ –
und Lena Louise, in Unkenntnis über den Salzgehalt dieser aus einer kleinen Heringsart
(Engraulis encrasicholus Cuv.) gewonnenen Spezialität, hat wohl zum Mittagessen die
Vorspeise aus Wachteleiern (aus Stadtroda) etwas reichlich mit den Anchovis-Filets belegt. Die salzhaltige Kost steigerte naturgemäß den Durst der Tafelgäste. Außerdem entstand bald der Verdacht, das Fäßchen Anchovis sei vielleicht durch den langen Transport verdorben worden. Lena Louise schreibt: „Disput wegen der Salz-Fische; wolltens doch haben das stinkernde glitzernde Zeuch!“
Im Zusammenhang mit dieser Bemerkung des Küchenmädchens lesen wir Eckermanns
Eintragung vom 18. Oktober mit ganz anderen Augen: „Hegel ist hier, den Goethe
persönlich sehr hochschätzt, wenn auch einige seiner Philosophie entsprossene Früchte
ihm nicht sonderlich munden wollen. Goethe gab ihm zu Ehren an diesem Abend einen
Tee (Hervorhebungen vom Verfasser), wobei auch Zelter gegenwärtig, der aber noch diese
Nacht wieder abzureisen im Sinn hatte.“
Tee wurde serviert – die verdorbene Fischlieferung zeitigte ihre Wirkungen, und der
Bericht Eckermanns über Zelters Abschied bekommt auch eine ganz andere Bedeutung,
wenn wir davon ausgehen, daß die Herren kränklich geworden waren: „Wir waren noch im
besten Gespräch und in der heitersten Unterhaltung, als Zelter aufstand und, ohne ein Wort zu sagen, hinausging.“ Zelter war Übel!
Den endgültigen Beweis dafür, daß mit der Lieferung des Anchovis-Fasses etwas nicht
in Ordnung war, fand ich in den „Erinnerungen eines ehrlichen Postmannes aus Goethes
Zeit“ – erschienen 1878 in Leipzig – als Verfasser wird Gottlob Friedrich Freidank
vermutet. Er war in der Frachtabteilung des Thum- und Taxischen Fuhrunternehmens in
Weimar beschäftigt und berichtet, im Jahre 1827 oder 28 habe er einen Streit mit seinem
Vorgesetzten gehabt, wegen „einiger Fässer Fische, wovon eines aufgeplatzt war“.
Freidank forderte, was uns hier nicht interessiert, die Fracht von Fischfässern zu verbieten; die „Erinnerungen“, keineswegs so ehrlich gemeint, wie im Titel angekündigt, bestärken die Vermutung, der Haushalt Goethes habe gerade das aufgeplatzte Faß bekommen. Bekanntlich war August, der die Einkäufe tätigte, bei den Militärpersonen der Residenz seit der Zeit der napoleonischen Kriege nicht allzu beliebt – und Freidank war Landsturmmann! Womöglich hat er das verdorbene Anchovis-Faß absichtlich dem Goethe-Haushalt zugedacht!
Die andere große Auseinandersetzung, die wohl letztlich dazu geführt hat, daß Lena Louise
ihren Abschied nahm, gab es im März 1828 um die Klöße. Man muß sich vorstellen: Das
junge Mädchen, aufgewachsen in guter bürgerlicher Tradition, zu der nun mal Klöße
(grün, also roh, halb-halb oder gekocht) gehören, sah sich plötzlich in die verfeinerte semifranzösische Küche des Dichterfürsten versetzt. („Die guten Teutschen werden wohl nie die Verfeinerung erreichen als wie die Franzosen …“ Goethe im „Briefwechsel mit einem Kinde“.) Lena Louise muß es versucht haben, dem alten Herrn die Klöße ihrer Heimat schmackhaft zu machen. Goethe aß nun gern halb-halb Klöße, war aber gegen rohe (grüne) Klöße eingestellt, die ihm zu ungestalt, zu wenig verfeinert, eben zu roh vorkamen – übrigens irrt hier Goethe! Rohe Klöße sind in der Herstellung ja eine viel größere Zierde der Hausfrau als die aus vorgekochten Massen, die sich leichter binden, während die Natur im rohen Kloß einer wirklichen Prüfung unterzogen wird. Der rohe Kloß zerfällt oder zerfällt nicht, das liegt im Geschick der ihn formenden Hand.
Lena Louise hat am 10. März 1828 für den Genius rohe Klöße zubereitet. Sie schreibt:
„Goethen rohe Klöße gebracht. Gesagt er muß sie dätschen. Exz. ohne Abbdit. Ärger! Sags
ihm: Besser Klöße findet är nicht!“ Damit war der Krieg eröffnet!
Goethe äußert sich abschließend zu diesem Thema am 12. März 1828: „Es ist ein
eigen Ding, liegt es nun in der Abstammung, liegt es am Boden, liegt es in der
landwirtschaftlichen Verfassung, liegt es in der gesunden Düngung des Bodens – genug,
die Weimarer behaupten, ihre Klöße hätten überhaupt vor allen anderen etwas voraus! Wir sehen hier in Weimar ja nur ein Minimum der Klöße des Landes, und wahrscheinlich gar nicht die besten … Als deutscher Hausvater, dem die Ruhe der Seinen lieb ist, empfinde ich oft ein kleines Grauen, wenn meine Schwiegertochter mir die bevorstehende Mahlzeit wieder mit einer so landeseigenen Spezialität anbietet. Ich sehe im Geiste schon die Tränen, die nach meiner begründeten Abweisung fliessen werden! Woran liegt es denn? Es liegt nicht an Aufzucht und Bodenbeschaffenheit, es liegt eben darin, daß sie die Natur nehmen und die Notwendigkeit der Kunst außer acht lassen!“ (Eckermann, 12. März 1828)
Für Lena Louise muß die „begründete Abweisung“ ihrer Kochkunst tief verletzend
gewesen sein – sie kündigt wenig später und wird im Hause des Kabinettskollegen Bertuch
angestellt – der übrigens ein intimer Feind des Ministers Goethe war. (Seine Familie ist
noch heute im Thüringischen zu Hause.)
Für den Goethischen Haushalt war der Abgang Lena Louises – so möchte ich in der mir
möglichen Objektivität sagen – ganz gewiß ein Verlust. Wurde es doch in dem Haus immer staubiger, düsterer; Goethe beklagte sich ständig über die ungeputzten Scheiben, die kaum noch Licht hindurch ließen. (Vergl. seine letzten Worte: „Mehr Licht!“) Goethe fühlte sich krank und einsam.
Sein alter Freund Zelter hat noch einen Versuch unternommen, die Düsternis am
Frauenplan aufzuhellen, er kam wenige Tage, bevor Lena Louise endgültig ging. In seinem
Tagebuch schreibt Zelter: „Niemand ist am Tor. Ein weibliches Gesicht schaut aus der
Küche, zieht sich zurück. (Zweifellos Lena Louise, der Verf.) Der Diener Stadelmann
kommt und zuckt die Schultern. Ich stehe noch an der Haustür, soll man etwa wieder
gehen? Wohnt hier der Tod? Wo ist der Herr? Trübe Augen. Wo ist Ottilie? Nach Dessau .
Wo ist Ulrike? Im Bette. August kömmt: Vater ist nicht wohl, krank, recht krank.“
Bekanntlich gelingt es Zelter, Goethe wieder auf die Beine zu bringen, er liest ihm dreimal
hintereinander laut die „Marienbader Elegien“ vor. (Friedenthal: „Goethe und seine Zeit“,
München , 1963)
Der Lebensweg Lena Louise Axthelms trennt sich hier von Goethe. Nur einmal noch,
Jahre später, ist sie mit dem Sekretär Eckermann zusammengetroffen; da hatte der einen
krummen Vogel auf der Schulter sitzen und ist vorbeigegangen, ohne zu grüßen. Er hat ihr
die Affaire mit den rohen Klößen offenbar nie verziehen.
Gewiß, die wenigen Aufzeichnungen der jungen Hausangestellten aus der Wirtschaft
des Olympiers fügen dem großen Gebäude, in dem wir unseren Goethe verehren, nur ein
winziges Steinchen bei, jedoch will ich zu meiner Verteidigung jenen anderen großen
Dichter anführen, der uns gefragt hat, was denn die Größten seien ohne ihre Köche.
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